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Die Diagnose Multiple Sklerose (MS) ist zweifellos ein einschneidendes Ereignis im Leben. Bei der Entscheidung für eine Behandlung steht das persönliche Wohlbefinden im Mittelpunkt. Vertrauen in den behandelnden Arzt ist entscheidend, denn eine Therapie ohne Vertrauen zeigt in der Regel wenig Erfolg. Gemeinsam mit den Behandlern sitzt man in einem Boot, möchte die Erkrankung bewältigen und einen Weg finden, der bestmöglich zum Ziel führt. Selbst wenn die Wahl auf einen anderen Therapieweg fällt, ist es wichtig, rückblickend sagen zu können, dass die Entscheidung gemeinsam getroffen wurde und man selbst zu nichts überredet wurde.

Die Entstehung und Diagnose von Multipler Sklerose

Trotz der Vielschichtigkeit der MS gibt es einige Hinweise auf mögliche Faktoren, die die Entstehung der Erkrankung beeinflussen können. Das Epstein-Barr-Virus und genetische Aspekte werden genannt, jedoch sind viele Ursachen noch nicht vollständig verstanden. Die Diagnose kann überraschend kommen, beispielsweise lässt man aufgrund von ständigen Kopfschmerzen eine MRT-Bildgebung machen, dabei zeigen sich auffällige weiße Flecken, die auf MS hindeuten, obwohl noch nicht alle typischen Kriterien für die Diagnose erfüllt sind.

Eine präklinische Aktivität ist gar nicht so selten und die MS damit manchmal sogar ein Zufallsbefund. Typischerweise wird aber von einer schubförmigen MS, die sich durch Schübe äußert, gesprochen und selten von der chronischen Form. Mittlerweile rücken Ärzt*innen von dem klassischen Bild ab, da sich bei manchen Betroffenen bereits zu Beginn chronische Veränderungen zeigen, sodass Schübe nur die Spitze des Eisbergs sind.

Der natürliche MS-Verlauf ohne Therapie

Früher, als es noch wenige Behandlungsmöglichkeiten gab, wagten einige Patient*innen bewusst den Verzicht auf Therapien. Doch der natürliche MS-Verlauf ohne Medikamente zeigt, dass dies nicht immer die beste Wahl ist. Studien belegen, dass bereits nach 15 Jahren ohne Therapie ein höherer Behinderungsgrad (EDSS 6 – engl.: Expanded Disability Status Scale) auftreten kann. Schwere Behinderungen (EDSS 8) nach 26 Jahren und Betroffene bei einem EDSS 10 nach 41 Jahren versterben. Dennoch ist es wichtig zu betonen, dass dies alte Daten sind, und heute gibt es wirksame Therapien, die die Lebenserwartung nicht beeinträchtigen.

Es ist eine Herausforderung, den individuellen MS-Verlauf vorherzusagen, da die Erkrankung sehr unterschiedlich verlaufen kann. Etwa 5% der Betroffenen erleben bereits in den ersten 5 Jahren einen schweren, aggressiven Verlauf. Es gibt aber auch Patient*innen, die unbeeinträchtigt sind. Die Entscheidung für eine Therapie erfordert daher eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung. Auch wenn Nebenwirkungen in Kauf genommen werden müssen, kann dies die Entstehung schwerer Beeinträchtigungen verhindern.

Faktoren, die den MS-Verlauf beeinflussen können

Neuere Erkenntnisse, welche in diesem Jahr beim europäischen MS-Kongress in Mailand vorgestellt wurden, zeigen Faktoren, die einen Einfluss auf den MS-Verlauf haben können. Demografische Faktoren, Umweltbedingungen, MRT-Marker und klinische Faktoren spielen eine Rolle.

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Die dargestellte Grafik gibt einen Überblick über die relevanten Faktoren, auf die wir nachfolgend noch eingehen werden.

Die Rolle des männlichen Geschlechts beim Verlauf

Bereits zurückliegende Daten haben gezeigt, dass das Geschlecht einen gewissen Einfluss auf den MS-Verlauf haben kann. Statistisch gesehen neigen Männer dazu, schneller in die Phase der chronischen Progression überzugehen, in der sich die Symptome allmählich verschlechtern. Das bedeutet jedoch nicht, dass dies für jeden Mann mit MS gilt. Statistiken geben lediglich einen allgemeinen Überblick.

Früh auftretende motorische Probleme wie Lähmungen, Gangstörungen oder Spastiken deuten darauf hin, dass die MS möglicherweise aggressiver verläuft. Auch die Anzahl der Schübe in den ersten Jahren nach der Diagnose kann ebenfalls einen Hinweis darauf geben, wie die MS fortschreiten wird. Studien zeigen, dass mehr als drei Schübe in den ersten beiden Jahren die Wahrscheinlichkeit einer späteren Verschlechterung erhöhen. Ein aktiver Therapieansatz in den frühen Stadien der Erkrankung kann dazu beitragen, die Schub-Aktivität zu reduzieren und damit langfristig positive Ergebnisse zu erzielen.

Die Rolle von Entzündungen im Gehirn und Rückenmark

Ein besonderer Fokus liegt auf Schüben, die durch Entzündungen im Gehirn oder Rückenmark entstehen. Spinale Schübe können aufgrund der Struktur des Rückenmarks langfristig ungünstige Narben hinterlassen. Hier wird deutlich, dass nicht nur die Anzahl der Schübe, sondern auch ihr Ursprung relevant für den MS-Verlauf ist.

Das Rückenmark können wir uns wie ein großes Stromkabel vorstellen, in dem die motorischen Bahnen verlaufen, aber auch Nervenbahnen, die die Blasen- und Darmfunktion regulieren, aber auch die Sensibilität und Wahrnehmung. Wenn dieses Stromkabel nun beschädigt wird, kann es nicht durch andere kompensiert werden. Das bedeutet, jede Läsion im Rückenmark ist prognostisch ungünstig und dadurch überaus wichtig Ruhe ins System zu bringen und die Entzündung zum Stillstand zu bringen.

Umweltfaktoren: Vitamin D und Rauchen

Umweltfaktoren spielen eine entscheidende Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von MS. Ein wichtiger Faktor ist Vitamin D. Studiendaten zeigen, dass ein höherer Vitamin-D-Spiegel mit einem geringeren Risiko für eine Multiple Sklerose einhergeht. Daher wird empfohlen, Vitamin-D zu supplementieren. Allerdings ist es wichtig zu betonen, dass Vitamin D allein nicht ausreicht und MS eine komplexe Erkrankung ist.

Ein weiterer bedeutender Umweltfaktor ist das Rauchen. Nikotinkonsum erhöht das Risiko von Schüben. Ist die Entzündung noch nicht gestillt kann es schnell zu einem zweite Schub-Ereignis kommen und damit auch die Konversion zu MS. Rauchen kann durch seine Toxine Gefäßschäden verursachen, wodurch Entzündungen ins Gehirn einwandern können. Es ist ratsam, diesen Risikofaktor zu berücksichtigen, auch wenn es letztendlich eine persönliche Entscheidung ist.

Komorbiditäten und ihre Bedeutung

In den letzten Jahren hat das Verständnis für Komorbiditäten im Zusammenhang mit MS zugenommen. Hierbei handelt es sich um Begleiterkrankungen, die zusätzlich zur Multiplen Sklerose auftreten können. Wir wissen bereits, dass Depressionen und Angststörungen bei MS häufiger vorkommen. Was sich mittlerweile zeigt, ist, dass auch vaskuläre Komorbiditäten wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes eine Rolle spielen.

Gerade im hohen Alter kommt es bei diesen Komorbiditäten zu einer eher ungünstigen Prognose, da es bei Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Diabetes zu Gefäßschädigungen kommt – zusätzlich zur MS. So kann sich das Ganze potenzieren. Wichtig ist, auch diese Erkrankungen aktiv zu behandeln, oder durch einen gesunden Lebensstil dafür zu sorgen, dass Komorbiditäten gar nicht erst auftreten oder verringert werden.

Bedeutung von MRT-Aufnahmen in der Prognose

Die Magnetresonanztomographie (MRT) spielt eine entscheidende Rolle bei der Prognose von MS. Die Untersuchungen zeigen Läsionen und Entzündungen im Gehirn. Besonders problematisch sind Läsionen in strategisch ungünstigen Bereichen wie dem Hirnstamm oder dem Rückenmark. Hier laufen bspw. die motorischen Bahnen, die für die Versorgung unserer Arme und Beine verantwortlich sind. Aus diesem Grund können mit einer ungünstigen Prognose einhergehen, was ein Grund sein kann, die MS als sehr aktiv einzuordnen. Auch Läsionen im Kleinhirn, das unter anderem für die Koordination und Standstabilität zuständig ist, können sich ungünstig auf Entzündungen auswirken. Schwere Symptome können auftreten und dadurch verschlechtert sich der Prognosefaktor.

Die Anzahl und Lage der Läsionen, insbesondere schwarze Flecke (Black Holes), können Aufschluss über den Schweregrad der Erkrankung geben. Diese schwarzen Löcher entstehen nur dann, wenn der Nervenschaden oder der Schaden an den Nervenbahnen so stark ist, dass eine Narbe entstanden ist. Dieser Schaden ist etwas, was nicht mehr weg geht und was es auf jeden Fall zu vermeiden gilt. Je mehr dieser Black Holes bereits am Anfang der Diagnose vorhanden sind, desto ungünstiger die Prognose bzw. der MS-Verlauf.

Die Vielfalt bei der Bewertung des MS-Verlaufs

Die Neuropathologie ermöglicht es uns, das Geschehen im Gehirngewebe während einer MS-Erkrankung zu verstehen. Es gibt jedoch keine Einheitslösung, da bei jedem Patienten verschiedene Mechanismen eine Rolle spielen können. Entmarkung, Axonschäden oder Entzündungen in der Hirnrinde können individuell oder kombiniert auftreten und machen eine pauschale Prognose schwierig.

Die bildliche Darstellung eines jungen Patienten mit wenigen weißen Flecken aber einem hohen Behinderungsgrad im Vergleich zu einer Patientin mit zahlreichen Läsionen aber einem geringeren Behinderungsgrad verdeutlicht die Komplexität. Ein hoher Grad an Läsionen führt nicht zwangsläufig zu einem höheren Behinderungsgrad. Andere Faktoren müssen berücksichtigt werden, was die Vorhersage des Verlaufs erschwert.

Veränderungen in der weißen Substanz: Mehr als das Auge sieht

Forscherinnen haben sich intensiv mit Veränderungen in der weißen Substanz und den Nervenbahnen beschäftigt. Standard-MRT-Aufnahmen zeigen oft nicht die gesamte Bandbreite der Veränderungen. Spezielle Methoden enthüllen subtile Schäden, die über die sichtbaren Läsionen hinausgehen. Die Theorie einer individuellen Schwelle erklärt, warum manche Patientinnen trotz vieler Läsionen nur wenig Symptome zeigen, bis evtl. ein kritischer Punkt erreicht ist.

Jede neue Läsion birgt das Potenzial für weitere Symptome und Verschlechterungen. Es ist entscheidend, jede Läsion zu verhindern, da sie nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Therapie und Beratung sollten darauf abzielen, den Krankheitsverlauf zu beeinflussen, um die individuelle Schwelle nicht zu erreichen.

MS-Verlaufskontrolle: MRT und Kontrastmittel

Zur Kontrolle und auch für eine Prognoseabschätzung erfordert es einen klaren Ausgangspunkt. MRT-Aufnahmen von Kopf und Rückenmark, bieten einen umfassenden Überblick über die Krankheitsaktivität. Wurden in den letzten 5 Jahren keine MRT-Aufnahmen mehr erstellt oder gibt es neue unerklärliche Symptome ist eine Aufnahme mit Kontrastmittel empfehlenswert. In den Verlaufsaufnahmen kann sonst auf Kontrastmittel verzichtet werden.

Neurofilament als möglicher Marker

Die Suche nach Markern, die den Krankheitsverlauf anzeigen, ist ein aktueller Forschungsschwerpunkt. Neurofilament (NfL), ein Protein und Bestandteil der Axone (Nervenbahnen), könnte ein vielversprechender Marker sein. Es wird freigesetzt, wenn Nervenzellen geschädigt werden, und könnte Hinweise auf die Aktivität der Erkrankung geben. Das NfL ist nicht MS-spezifisch, sondern kann auch bei einem Schlaganfall erhöht sein und kann im Blut nachgewiesen werden. Die Entwicklung und Integration dieses Markers in die klinische Praxis stehen jedoch noch aus, jedoch könnte er zukünftig Aufschluss darauf geben, was bei der MS gerade passiert.

Frühzeitige und individuelle Therapie

Mittlerweile gibt es immer mehr Wirkstoffe in der MS Therapie, was eine individuelle Therapie ermöglicht. Außerdem gibt es hochwirksame Behandlungen, die schon sehr früh eingesetzt werden können, um die Prognose von MS positiv zu beeinflussen. Frühzeitig hochwirksame Therapien einzusetzen, insbesondere wenn Risikofaktoren vorhanden sind, kann langfristige Schäden verhindern.

Eine interessante Studie aus Schweden und Dänemark gibt einen sehr guten Überblick. Die Schweden beginnen sehr früh mit einer hochwirksamen Behandlung, während in Dänemark auf eine Basistherapie gesetzt wird, die später eskaliert wird. Die Auswertungen durch das Register haben ergeben, wenn früh intensiv therapiert wird, insgesamt das Risiko sinkt einen neuen Schub zu bekommen.

Herausforderungen bei der Deeskalation der Therapie

Im Laufe des Lebens oder der MS-Erkrankung, nimmt die Schubaktivität ab. Viele Menschen mit MS fragen sich, wie lange sie so eine Therapie überhaupt wahrnehmen sollen. So ist das Absetzen einer Therapie im fortgeschrittenen Alter ein großes Diskussionsthema unter Ärzt*innen. Die Richtige Entscheidung, wann eine Deeskalation sinnvoll ist, hängt stark von dem bisherigen Verlauf der Erkrankung ab.

Aktuelle Studien aus der USA und den Niederlanden zeigen, dass das abrupte Beenden der Therapie zu einem Wiederauftreten der Krankheitsaktivität führen kann. Eine der Studien musste aufgrund der deutlichen Zunahme der Krankheitsaktivität bei einer relevanten Anzahl an MS-Betroffenen abgebrochen werden. Zwar werden noch weitere Daten benötigt, die Studie gibt aber ein gutes Argument nicht abrupt Therapien zu beenden, sondern Nutzen und Risiko gründlich abzuwägen.

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Sketchnotes vom medizinischen Online-Seminar von Pauline Gie

Zukunftsausblick: Neue Entwicklungen und digitale Tools

Mit Hilfe einer Mischung aus klinischen Scores, klinischen Befunden, MRT-Aufnahmen und mit Unterstützung von Tests, wie dem T25FW (Timed 25-Foot Walk) zur Analyse der Gehfähigkeit und dem 9HPT (9-Hole Peg Test) zur Einschätzung der Handfunktion, könnte es gelingen zukünftig den Krankheitsverlauf besser abzuschätzen. Auch sollten mehr Patient Report Outcomes (PRO), der Therapieerfolg, der durch den Patienten selbst dokumentiert wird, mit einbezogen werden. In Verbindung mit der Erforschung neuer Marker wie Neurofilament (NfL) könnte eine präzisere Verlaufsprognose möglich sein.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Prognose des MS-Verlaufs von verschiedenen Faktoren abhängt. Ein ganzheitlicher Ansatz, der klinische, bildgebende, und patientenbezogene Parameter berücksichtigt, ist entscheidend für die individuelle Betreuung und die bestmögliche Lebensqualität der Betroffenen.