Die Diskussion über die Ursachen von Multipler Sklerose (MS) teilt die wissenschaftliche Gemeinschaft in zwei Lager: Die einen betonen genetische Faktoren als entscheidend, während die anderen Umweltbedingungen, einschließlich äußerer Naturfaktoren und Erregern wie Viren oder Bakterien, als maßgeblich für das MS-Risiko sehen.
In zwei beeindruckenden Studien, die Anfang 2022 veröffentlicht wurden, rückt die Umwelttheorie in den Vordergrund. Bjornevik et al. berichteten in Science, dass eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) bei Erwachsenen dem Ausbruch von MS vorausgeht. Bereits zum Zeitpunkt der EBV-Infektion sind molekulare Zeichen einer Immunattacke gegen das Gehirn nachweisbar, lange bevor der erste MS-Schub auftritt. Eine Nature-Studie von Lanz und Kollegen erklärt, dass Antikörper, die gegen das EBV-Protein EBNA1 gerichtet sind, eine Kreuzreaktion mit dem Nervensystem zeigen, was zu einer fehlgeleiteten Immunreaktion gegen das Gehirn führt.
Diese Erkenntnisse bestätigen die lange vermutete EBV-Hypothese der MS. Das Epstein-Barr-Virus ist zwar kein notwendiger, aber ein hinreichender Faktor für die Entwicklung von MS. Etwa 95% der Menschen durchlaufen eine EBV-Infektion, aber nicht alle erkranken an MS. Dennoch hatten 100% der MS-Betroffenen eine EBV-Infektion.
Eine vielversprechende Entwicklung in der MS-Forschung ist die mögliche therapeutische Ausrichtung auf das Epstein-Barr-Virus. Eine kürzlich veröffentlichte Pressemitteilung berichtet von einer Studie, bei der Immunzellen (ATA188) umprogrammiert wurden, um EBV-infizierte Immunzellen im Körper von MS-Betroffenen gezielt zu erkennen und zu eliminieren.
Die Ergebnisse dieser Studie wecken Hoffnungen für eine ursächliche MS-Therapie. Die mit ATA188 behandelten Patienten zeigten sogar neurologische Verbesserungen. Trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse ist jedoch Vorsicht geboten. Die Datenlage basiert auf einer kleinen Phase-I-Studie mit 24 MS-Betroffenen, bei der verschiedene ATA188-Dosierungen getestet wurden. Die Nachbeobachtungsphase war mit 15 Monaten vergleichsweise kurz, und es fehlte eine echte Kontrollgruppe.
Die vorläufigen Ergebnisse müssen mit Zurückhaltung betrachtet werden, da Phase-I-Studien in ihrer Machart oft Schwierigkeiten aufweisen. Eine wahre Beurteilung des Therapieeffekts ist ohne Vergleich mit unbehandelten Patient*innen oder einer Standardtherapie schwierig.
Die Hoffnung ruht nun auf der laufenden Phase-II-Studie (EMBOLD), die auch eine Placebo-Gruppe einschließt und eine Nachbeobachtungsphase von bis zu fünf Jahren vorsieht. Die Ergebnisse dieser Studie werden zeigen, ob der vielversprechende Therapieansatz die Erwartungen erfüllt und eine ursächliche MS-Behandlung möglich wird.
In Zusammenarbeit mit Orhan Aktaş bleibt zu hoffen, dass diese Entwicklungen einen Durchbruch in der MS-Therapie bedeuten und die Grundlagen für zukünftige erfolgreiche Behandlungen legen können.