Seit ich denken kann, ist selbstständig zu sein für mich eine realistische berufliche Option gewesen – schließlich sind meine Eltern beide selbstständig und ich habe einen nicht unwesentlichen Teil meines bisherigen Lebens in ihren Firmen oder mit Gesprächen darüber verbracht.
Trotzdem bin ich erstmal einen ganz anderen Weg gegangen. Mit dem Wunsch Journalistin zu werden, habe ich in einem Tageszeitungsverlag eine Ausbildung gemacht und anschließend Politik und VWL studiert. Aber noch bevor ich mein Studium beenden und entscheiden konnte, wie es danach weitergeht, ist sie 2015 aufgetaucht – meine MitStreiterin namens MS. Für einen Moment waren die Gedanken an eine berufliche Perspektive erstmal in weite Ferne gerückt und an eine Selbstständigkeit war erst recht nicht mehr zu denken. Da ich aber kein Mensch für „Kopf in den Sand stecken“ und aufgeben bin, hat mich – nach einem ersten Verarbeiten der Diagnose und den Herausforderungen der Medikamenteneinstellung – schnell wieder der Ehrgeiz gepackt. Einen Studienabschluss machen kann man schließlich auch trotz der Spritzen im WG-Kühlschrank, die man sich alle 2 Tage, nach Uni-Tag und Studi-Partys noch eben verabreichen darf.
Nach meinem Studienabschluss und meinem vorerst festangestellten Berufseinstieg 2018, habe ich heute sogar noch einen weiteren großen Meilenstein erreicht und bin, knapp 10 Jahre nach der MS-Diagnose, selbstständige Business-Trainerin für Diversity und Sales. Nachdem ich den Faden dorthin nach meiner MS-Diagnose eine Zeitlang aus den Augen verloren hatte, gab mir die Ausbildung zur Business-Trainerin wieder den entscheidenden Denkanstoß und Schubs. Wenn man etwas gefunden hat, dem man mit Leidenschaft und Begeisterung nachgeht, ist plötzlich wieder alles möglich – trotz MS! Und so habe auch ich den Schritt vor einem halben Jahr erfolgreich gemeistert – natürlich nicht ohne das Ganze, vor dem Hintergrund der Erkrankung, intensiv zu durchdenken. Diese Gedanken und meine Erkenntnisse, möchte ich im Folgenden mit euch teilen:
Was gilt es zu beachten, wenn man (mit einer chronischen Erkrankung) gründen möchte?
- Mögliche Verdienstausfälle mitdenken
Wenn ich mich als Einzelkämpferin bei Kunden krankmelden muss und Termine nicht wahrnehmen kann, habe ich unmittelbare Verdienstausfälle. Und auch wenn jede*r krank werden kann, habe ich dieses Thema als MS-Patientin sicher noch etwas intensiver durchdacht als Menschen ohne chronische Erkrankung. Es ist ratsam sich, in den gesundheitlich stabilen Phasen, finanzielle Backups zu erarbeiten, durch die man auch mal eine Krankheitsphase gut übersteht, ohne dann auch noch finanzielle Sorgen im Kopf zu haben.
- Private vs. gesetzliche Versicherung klären
In der Gründungsphase besteht die Möglichkeit selbst zu entscheiden, ob man als selbstständige Person freiwillig gesetzlich versichert bleiben oder sich privat versichern möchte. Für mich war die Entscheidung, vor allem durch die chronische Erkrankung schnell getroffen. Da man in einer privaten Versicherung annähernd alle gesundheitlichen Leistungen erstmal finanziell vorstrecken muss und sie erst im Nachgang von der Kasse erstattet bekommt, war diese Option schnell vom Tisch. MS-Medikamente sind zwar ein Segen, kosten aber nicht selten drei- oder vierstellige Beträge. Das auch nur vorzustrecken war für mich als Einzelunternehmerin undenkbar.
- Über Zusatzbeitrag für Krankengeld informieren
Neben der Frage gesetzlich oder privat versichern, steht man im Gründungsprozess auch vor der Entscheidung, welchen Umfang es dabei braucht. Bei meiner Krankenkasse gab es die Option über einen geringen Aufpreis des monatlichen Beitrags Krankengeld zu beziehen. Ohne chronische Erkrankung hätte ich diese Option vielleicht dankend abgelehnt und gerade zu Beginn der Selbstständigkeit lieber den Zusatzbeitrag gespart. Mit der MS gibt mir diese Absicherung jedoch ein besseres Gefühl.
- Festlegung zu Rentenbeiträgen treffen
Für Selbstständige hält die Rentenversicherung unterschiedliche Beitragsmodelle bereit. Für bestimmte Branchen ist es sogar möglich, nur freiwillige Beiträge zu zahlen und dadurch von der Beitragspflicht befreit zu sein. Als chronisch kranke Person habe ich mich von vornherein gegen diese Befreiung entscheiden, weil sie einige Risiken birgt: Wer in den letzten 5 Jahren z.B. nicht mindestens 3 Jahre den Pflichtbeiträgen nachgekommen ist, hat keinen Anspruch auf Erwerbsminderungsrente.
Bei allem Optimismus und gutem Krankheitsverlauf besteht dahingehend mit MS natürlich ein Risiko. Zudem ist es für mich aktuell undenkbar, eine Kur oder Reha selbst zu zahlen, wenn sie nötig werden sollte. Als Selbstständige wird das aber nötig, wenn man sich für eine Befreiung von den Beitragszahlungen der Rentenversicherung entschieden hat.
Welche Vorteile bringt Selbstständigkeit für die MS mit sich?
- Maximale Flexibilität
Auch wenn durch die Digitalisierung und Homeoffice-Optionen heute auch Anstellungsverhältnisse in vielen Branchen deutlich flexibler geworden sind, war ich nie so flexibel wie in der Selbstständigkeit. Durch die freie Strukturierung der Arbeitstage und die Freiheit, meine Kundentermine für mich optimiert zu organisieren, kann ich mir alle Termine rund um die MS super in meine Wochen einplanen. Ob Physiotherapie, Termine beim Neurologen oder Infusions-/ Spritzentermine – ich kann durch die Selbstständigkeit vielem deutlich konsequenter nachgehen.
- Arbeiten nach Biorhythmus und Leistungsfähigkeit
Als Einzelunternehmerin, bisher ohne Team, bin ich niemandem Rechenschaft schuldig, zu welchen Zeiten ich arbeite. Ich kann die Tage meinem Biorhythmus und meiner Leistungsfähigkeit anpassen und mir, wenn ich nicht gerade beim Kunden vor Ort bin, zwischendurch auch mal Ruhephasen gönnen, die der MS guttun. Die Konsequenz daraus ist zwar nicht selten, dass ich auch mal am Wochenende oder abends am Rechner sitze, aber dann mit mehr Power und Motivation.
- Selbstoffenbarung nach eigenem Ermessen
Ich habe die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wem ich im beruflichen Kontext von meiner MS erzähle, weil es ausschließlich Auswirkungen auf meine eigene Wirkung und Wirtschaftlichkeit hat. Gerade als Diversity-Trainerin gehe ich inzwischen auch Kunden gegenüber sehr selbstbewusst damit um, dass ich chronisch krank bin. Ich empfinde das in meinem Kontext eher als Bereicherung und als einen Teil der Authentizität in meiner Rolle. Aber natürlich birgt ein so offensiver Umgang damit auch Risiken (hinsichtlich Leistungsfähigkeit etc.), die ich als Einzelunternehmerin ausschließlich für mich selbst trage.
Fazit: Sich selbstständig zu machen ist, egal ob mit oder ohne chronische Erkrankung, eine Herausforderung – aber eine der schönsten, die ich bisher gemeistert habe. Und für mich wiegen die Vorteile bisher sehr schwer und geben mir einen Grad an Selbsterfüllung, der sich auch auf meine MitStreiterin positiv auswirkt. Egal ob eine Gründung trotz oder gerade wegen der MS – es lohnt sich!